Auszug aus der Laudatio:
In der Finanzwelt werden Unternehmen, die eine derart wichtige wirtschaftliche Rolle spielen, dass ihre Insolvenz beträchtliche Auswirkungen auf die Stabilität des gesamten Systems hätte als „too big to fail“ bezeichnet. Gerät ein
solcher großer „player“ in Schwierigkeiten, hilft man ihm zur Abwehr eines systemgefährdenden Schadens mit einem „bail-out“ aus der Klemme. Während andere die Marktgesetze in ihrer vollen Härte treffen, werden sie bei systemrelevanten Unternehmen mit staatlicher Hilfe untergraben.
Friedrich Zawrel, dessen Lebensgeschichte Nikolaus Habjan gemeinsam mit Simon Meusburger aufgezeichnet hat, ist diese Welt fremd. Er spürt nur die Auswirkungen der dort getroffenen Entscheidungen. In den 1930er Jahren wächst er in schwierigsten Verhältnissen auf. Sein Vater ist Alkoholiker, die Mutter kann die Familie alleine nicht ernähren. Nach der Delogierung der als nicht förderungswürdig eingestuften Familie kommt er zunächst in ein Kinderheim und dann zu Pflegeeltern, die aber eigentlich nicht ihn sondern nur seinen Bruder aufnehmen wollen. Das lassen sie ihn auch spüren. Auf die Kränkungen reagiert er mit Flucht und landet schließlich „Am Spiegelgrund“, einer als Heilanstalt getarnten Euthanasieeinrichtung des Dritten Reiches in der als „medizinisch“ bezeichnete Versuche durchgeführt und fast 800 Euthanasiemorde an Kindern begangen wurden. In einem Gutachten wird Zawrel als »erbbiologisch und sozial minderwertig« eingestuft. Das bedeutet die Freigabe zur Tötung. Er überlebt, weil ihm eine Krankenschwester die Flucht ermöglicht.
Nach dem Krieg gelingt es ihm nur schwer, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Der Diebstahl eines Lebensmittelpaketes verschafft ihm das Stigma eines Kriminellen und verhindert eine Ausbildung. Erst Jahre später wird die Kriminologie die vom Österreicher Julius Vargha bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts begründeten Gedanken wieder aufnehmen und im Rahmen des labeling approach die Bedeutung einer solchen Etikettierung als kriminogenen Faktor näher erforschen.
Nach vielen Jahren, in denen er sich als Kleinkrimineller über Wasser gehalten hat wird Friedrich Zawrel verhaftet und psychiatrisch begutachtet. Im Sachverständigen erkennt er seinen Peiniger vom „Spiegelgrund“ wieder. Dieser ist mittlerweile hoch angesehen und vielbeschäftigter Gerichtsgutachter. Neuerlich attestiert er Friedrich Zawrel „soziale Minderwertigkeit“. Dieser nimmt – obwohl er seiner Mutter versprochen hatte, über die Zeit am „Spiegelgrund“ nicht mehr sprechen zu wollen – den ungleichen Kampf auf und findet Unterstützer. Nicht, um Rache zu nehmen, wie er sagt, sondern, um zu verstehen.
Der Ausgang der Sache ist bekannt: Das Verfahren gegen den ehemaligen NS-Arzt dauert, es kommt schließlich zwar zu einer Anklage aber zu keinem Urteil, weil dem mittlerweile verstorbenen Angeklagten wegen seines fortgeschrittenen Alters Verhandlungsunfähigkeit attestiert wird. Juristisch ist der Fall damit erledigt.
Nikolaus Habjan wählt die Form des Puppentheaters. Die von ihm verwendeten Klappmaulpuppen ermöglichen ungeahnte künstlerische Ausdrucksformen, die er meisterhaft nützt. Köpfe von Puppen sind austauschbar –ebenso austauschbar wie die Namen der Beteiligten in einem Strafverfahren. Das führt – losgelöst vom Einzelfall – zur grundsätzlichen Frage:
„Darf die Staatsanwaltschaft bei ihren Entscheidungen auf Systemrelevanz Rücksicht nehmen – darf es für sie ein „too
big to fail“ geben?
Wir sind uns wohl schnell einig in der Antwort: In einem demokratischen Rechtsstaat darf es niemanden geben, der – im Orwell`schen Sinne – „gleicher“ ist als andere. Warum gelingt es aber der Staatsanwaltschaft oft nicht, das auch öffentlich zu vermitteln? Vielleicht auch, weil das Strafprozessrecht ist ein hochkomplexes System vielfach kollidierender checks and balances ist. Ich möchte Sie einladen, mir noch einmal in die Welt der Hochfinanz zu folgen. Die Financial Times sieht in dem als Unterhaltungsspektakel inszenierten Verfahren gegen den früheren Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn eineNiederlage für das US-Rechtssystem – und zwar aus ganz anderen Gründen:
„An die Stelle der Unschuldsvermutung trat die Vorverurteilung, an die Stelle von Aufklärung erst einmal Mutmaßung, an die Stelle von Persönlichkeitsschutz öffentliche Sensationslust, an die Stelle von unvoreingenommenen Ermittlungen ein vorprozessualer Pranger durch erbarmungslose Medien.“ Trotz der Einstellung des Verfahrens sei DSK nicht rehabilitiert, weil die Chancen auf ein politisches Comeback gleich null seien.
Es wäre anmaßend und für einen Staatsanwalt auch höchst unprofessionell, sich ohne genaue Kenntnis der Verfahrensergebnisse ein Urteil bilden zu wollen, ob DSK schuldig oder ob er Opfer einer gegen ihn geführten Kampagne geworden ist. Das Gesetz gibt hingegen eine klare Antwort: „Es gilt die Unschuldsvermutung“.
Der Umgang von Politik und Medien mit diesem fundamentalen rechtsstaatlichen Grundsatz ist in der Tat oft leichtfertig und beschämend; die Strafanzeige wird zunehmend Mittel politischer Auseinandersetzung, bestimmte Comedy-Formate ernten schenkelklatschenden Beifall durch die Wiedergabe einzelner Sätze aus umfangreichen Ermittlungsakten. Bereits 1885 nannte der erwähnte Strafrechtslehrer Julius Vargha die Heilighaltung der praesumptio boni eine Conditio sine qua non der bürgerlichen Rechtssicherheit und mahnte vor allen von der Staatsanwaltschaft ein unablässiges Streben nach der materiellen Wahrheit ein.
In diesem Spannungsverhältnis steht die Staatsanwaltschaft. Sie darf keine Vorrechte gewähren oder auch nur einen
solchen Eindruck entstehen lassen, muss aber die Rechte Verfahrensbeteiligter wahren. Das gilt auch und vor allem in clamorosen Verfahren.
Nicht persönliche Befindlichkeiten, nicht die öffentliche oder die veröffentlichte Meinung dürfen zählen, sondern – wie es der Preisträger des Vorjahres Prof. Moss einmal so treffend ausdrückte – nur die strikte Rechtsstaatlichkeit. Die in § 240a StPO festgeschriebene Eidesformel für die Schöffen bringt es in antiquierter Sprache auf den Punkt: „
..der Stimme der Zu- oder Abneigung, der Furcht oder der Schadenfreude kein Gehör zu geben“.
Unser Beruf ist ein applausfeindlicher und das ist gut so – denn Beifall kann auch von der „Eselsbank“ kommen.
Der erste Swoboda-Preisträger Karl Markovics meinte bei seinen Dankesworten 2014: „Ich weiß
schon, dass „ohne Ansehen der Person“ bedeutet, dass ein Reicher nicht besser behandelt werden darf, als ein Armer. Aber vielleicht behandelt man einen Armen ja manchmal sogar schlechter, wenn man ihn nicht wie einen Armen
behandelt. Und deshalb darf Justitia nicht blind sein. Niemand ist „gleich“, weder vor dem Gesetz, noch sonst irgendwo auf dieser Welt. Das einzige, was gleich ist ist, dass wir alle Menschen sind.“
Wir vergeben den Wolfgang Swoboda Preis für Menschlichkeit im Strafverfahren heute zum dritten Mal. Es freut mich sehr, dass der Preis so gut angenommen wurde; dass sich darum eine Gruppe von besonderen Menschen gebildet hat, die auch den Festakt jedes Jahr zu einem wunderschönen Erlebnis werden lässt. Bedeutung erlangt ein Preis aber vor allem durch die Preisträger. Hier haben wir uns die Latte bewusst sehr hoch gelegt.
Im Vorjahr ging der Preis an den Doyen der österreichischen Strafrechtslehrer, heuer erhält ihn ein sehr junger Künstler. Nichts könnte besser verdeutlichen, wie vielfältig die Möglichkeiten sind, zu etwas mehr Menschlichkeit im Strafverfahren beizutragen. Man muss sie nur nützen.
Wien, 29.2.2016
Thomas Mühlbacher